Hört sich reine Stimmung besser an als gleichstufige Stimmung?

4 Antworten

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Hallo,

reine Stimmung hört sich fast immer besser an, wenn sie denn möglich ist und der Musik entspricht. Ein Chor kann theoretisch rein singen, was aufgrund der reinen Intonation dazu führt, dass er am Ende eines Stückes höher oder tiefer auskommt, abhängig von den harmonischen Gängen des Satzes.
Ich schreibe 'fast', denn großes Komponisten hatten bei ihrer Komposition immer das Instrumentarium vor ihrem inneren Ohr, und das haben sie seinen klanglichen Möglichkeiten entsprechend eingesetzt.
So klingen Orgel- oder Cembalowerke von Bach in mitteltöniger Stimmung nicht so überzeugend wie in einer ungleichstufigen ('wohltemperierten') Stimmung des 17. oder 18. Jahrhunderts. Das gleiche gilt für romantische Musik und ungleichstufige Stimmungen.

Auf Tasteninstrumenten mit 12 Tasten für eine Oktave gibt es keine reine Stimmung.
In der pythagoreischen Stimmung gibt es 11 reine Quinten, die 12. ist falsch, außerdem alle Terzen, und zwar nicht unerheblich.
In der mitteltönigen Stimmung sind alle Quinten unrein, 8 große Terzen sind rein, die verbleibenden 4 sind sehr unrein.
In den 'wohltemperierten' Stimmungen sind einige Terzen und Quinten der in der Zeit meistgebräuchlichen Tonarten rein oder fast rein, andere um so unreiner. Dadurch entsteht übrigen die Tonartencharakteristik.
In der gleichstufigen Stimmung sind außer den Oktaven alle Intervalle falsch, die Terzen mehr, die Quinten weniger. Aber die meisten Menschen haben sich daran gewöhnt, bzw. nie eine Stimmung mit reinen Intervallen gehört und schätzen gelernt.

würden sich bspw. moderne Klavier Stücke besser anhören, würde man digital die Tonhöhen passend abändern?

Ich denke: nein.
Zunächst müsste die Komposition Qualitäten haben, die durch reine Intervalle tatsächlich gewinnen würden. Gewichtiger ist jedoch der Umstand, dass man Gis (als reine Großterz über E) kurz nach As (als reine Großterz unter C) schlicht als falsch, verstimmt hört. So schnell kann das Ohr nicht folgen. Diesen Effekt kann man bei Cembali mit Subsemitonien erleben, die 14 oder 15 Tasten pro Oktave haben (siehe Abbildung oben).

Man kann über Stimmungsfragen Bücher schreiben, aber ich denke, Deine Frage sollte beantwortet sein. Ansonsten - frage! 😉

LG
Arlecchino

 - (Musik, Musiktheorie, wohltemperiertes-klavier)

R4c1ngCube 
Fragesteller
 08.04.2022, 19:10

Hallo, danke schonmal für die ausführliche Antwort :)

Wenn ich dich richtig verstehe, meinst du, dass sich reine Stimmung fast immer besser anhört, vor dem Hintergrund, dass die meisten Stücke für die reine Stimmung geschrieben wurden.

Meine Frage meinte ich allgemeiner - also angenommen, jemand der keine Ahnung von reiner Stimmung hat, schreibt einen Pop Song mit gleichstufiger Stimmung, würde es sich (im Regelfall) besser anhören, würde man den Song stattdessen mit reiner Stimmung spielen?

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R4c1ngCube 
Fragesteller
 08.04.2022, 19:15
@R4c1ngCube

Ah, ich habe jetzt erst gesehen, dass die Antwort bearbeitet wurde, jetzt ist alles beantwortet :)

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Arlecchino  08.04.2022, 19:25
@R4c1ngCube
dass die meisten Stücke für die reine Stimmung geschrieben wurden.

Das ist nicht richtig, auf den wenigsten Instrumenten kann man rein spielen. Auf Streichinstrumenten ginge es theoretisch, wird aber nicht praktiziert, da es im Zusammenspiel mit anderen Instrumenten falsch klingen würde.

würde man den Song stattdessen auf einem Instrument mit reiner Stimmung spielen?

Wie gesagt, es gibt kaum Instrumente, die rein spielen können. Würde man das bei einem Tasteninstrument elektronisch regeln, würde das Ohr den schnellen Wechsel von gis/as (wie oben beschrieben) und anderen enharmonischen Verwechselungen als unsauber empfinden. Und die Sänger und anderen Instrumente - wenn sie nicht alle digital wären - würden zu so einem Intonations-Hin-und-Her nicht passend intonieren können.

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Arlecchino  12.04.2022, 01:39
@R4c1ngCube
Hallo, danke schonmal für die ausführliche Antwort :)

Danke für die Aufmerksamkeit! ⭐️

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Ich habe es gerade mal ausprobiert und mein E-Piano in reiner Stimmung gespielt.
Wenn man z.B. nur die drei Dur-Akkorde der Tonart, also die Hauptfunktionen, spielt, klingt es schöner, weil weniger Schwebung zu hören ist (denn alle sind jetzt rein gestimmt).
Wenn du aber den Mollakkord der II. Stufe brauchst, hast du schon ein Problem (in C-Dur d-moll), der klingt schräg.
aus Wikipedia: Bei der reinen Stimmung der C-Dur-Tonleiter mit dem D des Dominantenakkordes G-,H-D und dem ,A des Subdominantenakkordes F-,A-C ergibt sich eine Quinte D-,A, die ein syntonisches Komma zu eng ist und damit dissonant erscheint.
Und sobald du etwas melodisches spielst, ist es für das Ohr sehr ungewohnt, dass es unterschiedlich große Ganztöne gibt.
Ich würde sagen, der Komponist muss die Musik schon von Anfang an so konzipieren, dass sie mit der reinen Stimmung funktioniert, oder es ist zufälligerweise so limitiert. Man kann nicht irgendeinen beliebigen Song nehmen.

Bei modernerer Musik kommen schon mal mehrdeutige Akkorde, oder Akkorde, die in ihrer Funktion umgedeutet werden, vor. Z.B. bei einem Tritonus in gleichstufiger Stimmung weiß man nicht, ob es sich um eine verminderte Quinte oder eine übermäßige Quarte handelt. Dieser Reiz, dass er gleichermaßen in die eine Richtung und in die andere Richtung aufgelöst werden könnte, fällt bei nicht gleichstufiger Stimmung weg. Jazz-Akkorde mit bis zur Tredizime würden auch ihren Klang verlieren. Ich weiß allerdings nicht, wie sich alles oben genannte wirklich anhören würde. Wenn auf eine Tonart gestimmt wird, klingen selbst nicht alle Intervalle der Stammtöne reiner als bei gleichstufiger Stimmung.

Ansonsten klingt reine Stimmung insofern besser, dass Schwebungen wegfallen.


Arlecchino  08.04.2022, 21:08
Z.B. bei einem Tritonus in gleichstufiger Stimmung weiß man nicht, ob es sich um eine verminderte Quinte oder eine übermäßige Quarte handelt.

Der Tritonus ist übrigens seit dem 17. Jahrhundert Allgemeingut - später wäre ihm auch nicht mehr eine lateinische Bezeichnung (Diabolus in Musica) zuteil geworden.

Ob übermäßige Quarte oder verminderte Quinte hört man auch nicht in ungleichstufigen Stimmungen, weder auf Tasteninstrumenten noch auf Streichinstrumenten. Beim Tasteninstrument nicht, weil es dieselben Tasten sind. Beim Streichinstrument nicht, weil (im folgenden Beispiel, aber es gilt allgemein) bei der Großterz h/dis das dis tiefer intoniert wird als in der gleichstufigen Stimmung, bei der Septime f/es wird es ebenfalls tiefer intoniert, weil die reine kleine Septime kleiner ist als die gleichstufige:

h - dis - a (Quinte) nach e - e - gis oder
f - es - a (Quarte) nach b - d - b
ging beides ungleichstufig und gab es auch.

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Arlecchino  09.04.2022, 01:11
@Mathmaninoff, UserMod Light

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Herr Mathematicus!

Ich bin nicht nur bereit, jeden Rechenvorgang nachzuvollziehen, der auch nur entfernt etwas mit musikalischer Praxis zu tun hat. Es hat mich auch immer wieder interessiert, und ich bin in der Materie nicht unbewandert. Bei mir fällt jedoch der Vorhang, wenn ohne allen Bezug zur musikalischen Praxis theoretisiert wird.

Eine reine Stimmung für Tasteninstrumente mit 12 Tönen pro Oktave oder Holzblasinstrumente gibt es nicht: Drei Großterzen sind kleiner als eine Oktave (syntonisches Komma), und 7 Oktaven sind größer als 12 Großterzen (pythagoreisches Komma). Deshalb mussten Kompromisse gefunden werden: Pythagoreische, mitteltönige, 'wohltemperierte' ungleichstufige und die gleichstufige Stimmung.
Berechnet wird nicht die größtmögliche Reinheit sondern der bestmögliche Kompromiss, immer mit vielen falschen Intervallen.

Sänger und Streicher können reine Intervalle spielen. Aber das braucht keine Rechenkünste. Ein guter Musiker hört reine Intervalle, weil sie schwebungsfrei sind, und so kann er sie intonieren. Zumeist weiß er auch, dass das Frequenzverhältnis der Töne in der Oktave 1:2, in der Quinte 2:3, der Quarte 3:4 und in der Großterz 4:5 ist. Mehr braucht es nicht.

Es gibt keine Stimmung für den praktischen Gebrauch, in der eine Tonleiter rein gestimmt wird, denn mit einem solchermaßen gestimmten Instrument könnte man nur eine Tonart mit ihren leitereigenen Dreiklängen spielen - für die Praxis völlig unbrauchbar. Deshalb ist die verlinkte Tabelle eine reine Zahlenspielerei ohne jeden praktischen Bezug. Ein anderer Nutzer schreibt, dass er sein E-Piano auf reine Stimmung gestellt hat, die Wirkung kannst Du hier nachlesen - unter Vorbehalt, denn was genau hier als reine Stimmung bezeichnet wird, weiß man nicht.

Von f nach h (Quarte): (15/8) / (4/3) = 45/32.
Von h nach f (Quinte): (8/3) / (15/8) = 64/45

Da kein Instrument so gestimmt ist, ist diese Berechnung müßig und für die musikalische Praxis ohne Bedeutung.
Und was heißt denn hier reine Stimmung? Nicht einmal die Intervalle der C-Dur-Tonleiter sind alle rein. D ist die reine Quinte über G, A ist die reine Großterz über F, damit ist die Quinte D/A falsch, und zwar heftig!

Außerdem hatte ich von der Quarte es/a und der Quinte dis/a gesprochen. Beide Intervalle liegen auf denselben beiden Tasten. Das könnte auch Einstein nicht auseinanderrechnen.

Inwiefern wird beim Streichinstrument also anders als in dem Wikipedia-Artikel gestimmt?

Salopp gesagt: Weil Geiger Musik machen wollen, die sie selbst ertragen können und vor der das Publikum nicht wegläuft.
Konkret: Weil die dort dargestellte Tonleiter für den praktischen Gebrauch - wie hoffentlich hinreichend beschrieben - ungeeignet ist.
Barockgeiger stimmen je nach Bedarf reine Quinten oder etwas engere Quinten, um ähnlich wie ein Tasteninstrument zu intonieren. Gambisten lassen sich gerne die Töne der leeren Saiten vom Tasteninstrument vorspielen, damit der Einklang der leeren Saiten rein ist.

Gute Nacht!

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Mathmaninoff, UserMod Light  09.04.2022, 10:32
@Arlecchino

Guten Morgen!

Sehr interessant. Die Wolfsquinte war mir schon bekannt. Bei mir steht auch ein E-Piano, wo man die Stimmung verändern kann. Ich hatte bei meiner Antwort die Schwierigkeit der Modulation mit enharmonischen Verwechslungen im Sinn. Ich habe auf dem E-Piano etwas rumprobiert und speziell "f - es - a (Quarte) → f - dis - a (Quinte) nach e - e - gis". Wenn man dann bei der Stimmung den Grundton ändert, hört sich die Auflösung besser als von mir erwartet an, obwohl man die ursprüngliche Quarte in die Terz aufgelöst hat. Möglicherweise finden sich andere modernere Akkordkombinationen, wo man das nicht so schafft.

Oder welche Art von Modulation/Akkordfolge ist damit gemeint?

Gewichtiger ist jedoch der Umstand, dass man Gis (als reine Großterz über E) kurz nach As (als reine Großterz unter C) schlicht als falsch, verstimmt hört.

Kann man nicht bei E-Dur → As-Dur das Gis gleich lassen und dafür das C anpassen?

Das Thema ist interessant und da könnte man tatsächlich Bücher schreiben.

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Auf Instrumenten zB der Violinenfamilie wird das schon immer gemacht, weil man dort stufenlose Tonhöhen hat, auch Blasinstrumente können das in Grenzen. Instrumente mit diskreten Schritten wie gebundene Saiteninstrumente oder Tasteninstrumente müssen dafür besonders ausgerüstet sein, dh mehr Tasten bzw Bünde haben. Ein einfach für einen Grundton rein gestimmtes Normal-Instrument lässt einen schon im Stich, wenn man den üblichen Schlager-Trick versucht und mitten im Lied alles einen Halbton anhebt.