Du hast dir gerade eines der kontroversesten Systeme überhaupt vorgenommen.
Sagen wir mal so:
Traditionelle Systeme sind oftmals sehr unhandlich, was auf ihre Herkunft zurückgeht. Wenn du dir das chinesische Kung Fu, das auf Jahrhunderte alte Shaolin-Traditionen zurückgeht, sowie japanische Systeme wie Aikido, Jiu Jitsu oder Bujinkan oder daraus extrahierte Subsets wie Karate und Judo anguckst, das auf Samurai- und teilweise Ninja-Traditionen zurückgeht, auch nicht viel jünger, dann hast du überall Techniken drin, die den damaligen Gegebenheiten (Kleidung - auch eine Art Schutzkleidung, Rüstung, wenn man so will -, Kampfstil der Gegner, Waffen, denen man sich ausgesetzt sah...) durchaus gerecht wurden. Heute passt das nicht mehr und man findet dort ein gutes Training für Geist und Körper, traditionellen Hintergrund und Techniken, die, wenn du sie perfekt verstanden hast und auch auf heutige Verhältnisse adaptieren und verändern kannst, sehr mächtig und oftmals überlegen sind, aber schulbuchmäßig erlernt einfach nicht viel taugen.
Wing Tsun bzw. Wing Chun ist ein Ableger aus dem Kung Fu, das auf eine Nonne namens Wing Chun (andere Schreibweise - Wing Tsun ist ein registrierter Markenname eines Verbandes, der dieses System aufgegriffen hat) zurückgehen soll, faktisch geht das moderne Wing Chun aber auf Ip Man zurück. Ip Man war Lehrmeister von Bruce Lee und Bruce Lee hat in Filmen mitgespielt - heißt, der Grundstein für das moderne Wing Chun wurde vor gar nicht mal so langer Vergangenheit gelegt, in einer Zeit, als es schon Kinofilme gab (mal so zur zeitlichen Einordnung - bei den anderen Systemen war man da noch Jahrhunderte von entfernt). Heißt, die Idee, altbewährte, mächtige Techniken etwas zu modernisieren sollte eigentlich gegeben sein. Letztlich sind ja viele Systeme so entstanden, eine der anerkannt besten Selbstverteidigungssysteme, Krav Maga, war ja auch nur eine Rekombination, Anpassung und Modernisierung verschiedener älterer Kampfsysteme, die der Entwickler, Imi Lichtenfeld, damals mal gelernt hatte.
Das Problem bei Wing Tsun ist: Es treiben sich viele Scharlatane in dem System. Wie schon gesagt, Wing Tsun ist ein Markenname und zwar der EWTO (European Wing Tsun Organisation), gegründet von Keith Kernspecht. Und dessen Ruf ist... nicht gut. Und so manch einer, der dieses System in dieser oder einer anderen Schreibweise unterrichtet hat, hat selbst darauf noch einen drauf gesetzt, sodass manche Dojos, Verbände oder Subverbände sogar eine Zeitlang unter Beobachtung der Sektenbeauftragtenstellen in Deutschland standen. Die Verpflichtung zum Kauf teurer Verbandskleidung statt geeigneter Kleidung aus Kampfsport-Shops, erkaufte Graduierungsprüfungen, psychischer Druck und Darstellung als Verräter bei beabsichtigtem Austritt, alles an der Tagesordnung bei einigen Veranstaltern. Natürlich nicht bei allen.
Wenn du, unabhängig von der Schreibweise Wing Tsun, Wing Chun oder noch anders, gute Trainer findest, ist das System durchaus okay, auch zur Verteidigung. Da werden dann auch keine unglaubwürdigen Showtechniken gelehrt, die man in diesen "Bullshido"-Auftritten in Social Media immer mehr sieht. Aber die Suche nach einem guten Trainer ist wohl sowas wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.