Moin, Moin,
du müsstest natürlich schreiben, welche Epoche dich interessiert, denn die Sowjetunion durchlebte mehrere sehr unterschiedliche Phasen, die meisten Leute, die dort gelebt haben, erinnern sich aber nur an die letzten beiden, und in die vorletzte, die bis ca. 1985 dauerte, wünschen sich viele zurück. Und es ist natürlich auch ein Unterschied, wo du dort gelebt hast. Zwischen Moskau und dem sprichwörtlichen sibirischen Muchosransk lagen damals schon Welten.
Was war schlecht an der Sowjetunion.
Zuallererst: Es gab kein Klopapier. Für den Deutschen, der vor allem in Krisenzeiten dieses überaus wertvolle Kulturgut gerne in größeren Mengen hortet, ist das jetzt vermutlich ein Schock, aber es war so, ich habe das fast nirgendwo gesehen. Vielleicht in Hotels für ausländische Touristen oder in Politbüros der Parteibonzen gab es welches. Aber nicht bei uns. Bevor du dich jetzt fragst: "Wie geht denn das, wie funktioniert das Leben ohne das wichtigste Kulturgut, das die Menschheit jemals hervorgebracht hat?" - sage ich: "Es geht, es geht sogar ganz wunderbar." Du setzt dich einfach auf dein Plumsklo am Ende des Gemüsegartens, hörst bedächtig dem Geheul der Wölfe in der nahe gelegenen Taiga zu, reisst dir ein Stück von der aktuellen Tageszeitung ab, denn dafür hast du sie ja abonniert und nicht etwa zum Lesen, am besten du erwischst ene Seite mit dem Konterfei von Breschnew oder einem anderem wichtigen Politbürofuzzi, zerknittert das ein bisschen zwischen den Händen und wischst dir damit genüsslich nicht ohne eine gewisse Genugtuung den Hintern ab. Dabei liest du nebenbei den Sportteil, denn das war der einzige Teil, wo einigermaßen die Wahrheit geschrieben wurde. Falls du dir Sorgen um unsere sowjetischen Ärsche machst: die waren robust und abgehärtet wie fast alles im Land, ein bisschen Druckerschwärze und raues Zeitungspapier machten denen nichts aus.
Was war noch alles schlecht? Es gab bei uns leider so gut wie nie Plombir-Eis zu kaufen und das war so ziemlich das beste Produkt, was die Sowjetunion je hervorgebracht hat. Am Vorhandensein des Plombir-Eises im heimischen Supermarkt konnte man die verschiedenen Versorgungsstufen, die in der Sowjetunion existierten, sehr gut studieren. Bei uns in der Kleinstadt hinter dem Ural wurde vielleicht 2-3 mal im Jahr eine Ladung gebracht, die Hälfte davon haben die Verkäufer gleich für sich und Freunde und Bekannte zur Seite geschafft, der Rest wurde "rausgeschmissen" wie man bei uns so sagte. Es bildete sich sofort eine lange Schlange, und im Nu war alles ausverkauft. In der nächsten Großstadt, einer Industriestadt mit ca. hunderttausend Einwohern gab es das schon regelmäßig. In der Gebietshauptstadt Swerdlowsk gab es an jeder Ecke im Kiosk mindestens zwei Sorten: Sahne, Erdbeere oder vielleicht sogar Schokolade. Wenn unser Zug dort etwas länger anhielt, rannten wir sofort als Kinder zum Bahnhofskiosk und kauften uns welches. Und in Moskau und Leningrad hattest du an jeder Ecke mindestens fünf Sorten zur Auswahl, auch Eis am Stiel oder das Sandwich-Eis mit Sahneeis zwischen den Waffeln.
Zum Vergleich: Hier in Deutschland gibt es in jedem etwas stärker von Russen bewohnten Viertel russisches Plombir-Eis einfach im deutschen Supermarkt. Lidl hat es in Form von Familienpakungen, und bei Rewe gibt es auch einzelne Sorten für 60 Cent pro Stück im Kühlregal. Und alles "made in Germany", musst nicht mal ein schlechtes Gewissen haben, wenn du deine Lieblingssorte mit Genuss schleckst, dass du damit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützt. Das ist Kapitalismus. Wenn die Nachfrage da ist, gibt es auch ein Angebot. Bei uns hieß es eher: "Das was wir nicht haben, brauchen Sie nicht." - und man war anscheinend der Meinung, das die Kinder auf dem Land, anders als die Kinder in Moskau, kein Plombir-Eis brauchten.
Was war gut an der Sowjetunion? Alles war gut, ausser das, was schlecht war, und das meiste habe ich ja schon aufgezählt. 😁
Die Leute gingen arbeiten. Wohl gemerkt, sie gingen zur Arbeit, ob sie wirklich gearbeitet haben, war eine andere Sache. Meine Mutter meinte, immer wenn in ihrer Zeche Not am man Mann war, wurden die Schlosser aus der Reparaturabteilung zur Unterstützung geschickt, nach kurzer Zeit liefen sie heulend davon, sie waren eher gewohnt den ganzen Tag in ihrem Kabuff Karten zu spielen, als zu arbeiten. Nach der Arbeit traf man sich. Es wurde viel gefeiert und es floß auch jede Menge Alkohol. Alle waren gut gelaunt. Die Kinder wurden permanent betreut in diversen meist kostenlosen Freizeiteinrichtungen, wie dem Klub der jungen Pioniere, wo man Schachspielen oder löten lernte, Kunst- Musik und Theaterschulen gab es fast in jedem Dorf (das ist jetzt nicht übertrieben) man lerne malen, zeichnen, Klavier spielen oder rezitierte Gedichte von Puschkin oder Jesenin vor versammeltem Publikum im örtlichen Kulturklub. Jeder konnte das.
Die Schulen waren gepflegt und sauber. Die Eltern haben sie selbst in den Ferien renoviert. Es war für mich ein Schock als ich 1991 in Ostdeutschland in Leipzig ankam. Da hing in der Schule die uralte Tapete von der Wand und die Farbe blätterte ab. Überhaupt, Leipzig war eine Ruine damals, wir konnten es gar nicht verstehen, immerhin war das mal die zweitgrößte Stadt der ehemaligen DDR. Aber es gab in Sachsen viele schmucke Kleinstädte, die fand ich toll, da war ich immer gern zu Besuch und habe mir die Sehenswürdigkeiten angeschaut.
Bei uns war das anders. Die Leute mussten sich um vieles selbst kümmern, auch in gewissen Abständen die Straßen und die Höfe in den Städten selbst aufräumen, "Subbotniks" nannte man das von "Subbota"- Samstag, das war eigentlich ein Arbeitstag, aber die Leute wurden von ihren Betrieben zum Aufräumen und Saubermachen in die Stadt abkommandiert und feierten das ab. Es stärkte das Gemeinschaftsgefühl.
Die Lehrer bei uns in der Schule waren super drauf. Die schlimmsten würde ich als "hart aber fair" bezeichnen. Die meisten liebten ihren Job und waren total an unserem schulischem Erfolg interessiert. Ich war da gerne auch ausserhalb der Schulzeit und hing viel in der Schulbibliothek rum im Kunst- und Musikraum oder im neuen Computerraum. Nur das Schulkantinenessen war so lala, aber das ist es wohl überall. Nach unserer Übersiedlung nach Deutschland war das hiesige Schulsystem bis zum Abi für mich ein Spaziergang. In der Perestroikazeit haben wir auch gegen unsere Lehrer rebelliert und keine Schuluniformen mehr getragen, aber auch das haben sie unterstützt. Wir hatten einen sehr fortschrittlichen Schuldirektor, der an der Gründung der ersten demokratischen Partei bei uns im Landkreis mitbeteiligt war, und der hat lauter experimentierfreudige junge Lehrkräfte aus der Großstadt angelockt, die bei uns sich austoben durften und Dinge ausprobieren, die in der Großstadt noch Tabu waren. Unsere junge Klassenlehrerin kam nach der Uni aus Swerdlowsk zu uns und hat wohl nebenbei heimlich an ihrer Dissertation zum Thema "Lehrer und Schüler - Freunde." gearbeitet, und wir waren ihre Versuchskaninchen. Deswegen hing sie ständig auch in der Freizeit mit uns rum, machte mit uns viele Ausflüge, diskutierte mit uns über alles Mögliche, und hat nebenbei auch ganz vorzüglich Gitarre gespielt und gesungen. Wir haben sie vergöttert. Westliche Musik und Kleidung waren dann irgendwann mal auch erlaubt und man war die ganze Zeit damit beschäftigt die Alben der neuesten Bands irgendwo zu finden und auf Kassetten aufzunehmen.
Unsere Eltern waren zeitgleich allerdings eher damit beschäftigt die nötigsten Sachen zum Überleben zu organisieren, es verschwanden nach und nach fast alle Artikel aus den Supermärkten, die Lebensmittel wurden rationiert, es gab Lebensmittelkarten, und man musste stundenlang elend lange Schlangen vor den Geschäften stehen, um irgendwas zu ergattern. Die Leute waren aber auch da noch gut gelaunt, scherzten und alberten in der Schlange stehend rum selbst bei -30C° Außentemperatur (wie gesagt, wie waren alle ziemlich robust und abgehärtet), erzählten sich Geschichten und betrachteten die Schlangen als einen neuen, heissen Treffpunkt für Freunde und Bekannte, wo man den neuesten Tratsch erfuhr. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.
Tja und dann brach plötzlich alles zusammen.